Ausrichtung der Wiener Arabistik

Der Fokus der Wiener Arabistik liegt ganz klar im Bereich von Philologie und Kulturgeschichte und umspannt dabei sowohl historische als auch moderne Epochen der arabischen Sprache und Geistesgeschichte. Besondere Schwerpunkte sind einerseits sprachwissenschaftlich ausgerichtete Lehre und Forschung zu den modernen gesprochenen Varietäten des Arabischen, andererseits das Studium und die Erforschung der Geschichte von Philosophie, Kalām und Medizin unter Berücksichtigung der handschriftlichen Überlieferung.

In beiden Bereichen befindet sich die Wiener Arabistik unter den international führenden wissenschaftlichen Institutionen. Die hohe fachliche Qualität spiegelt sich in der beachtlichen Anzahl von Forschungsprojekten wieder, welche in den vergangenen Jahren kompetitiv aus Drittmitteln eingeworben wurden.

Ein dritter Schwerpunkt befasst sich mit der Geschichte und Kulturgeschichte des antiken Jemen.

Am Kamelmarkt von Omdurman, Sudan @ Stephan Procházka

Forschungsschwerpunkte der Wiener Arabistik

Arabische Dialektologie

Die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit den gesprochenen arabischen Varietäten geht am Wiener Institut auf die 1970-er Jahre zurück und hat sich seither kontinuierlich weiterentwickelt. Die diversen regionalen Dialekte stellen die eigentliche Muttersprache der fast 300 Millionen Arabisch sprechenden Menschen dar und verdienen als dynamische und kommunikativ genutzte Varietäten wissenschaftliche Beachtung. In der Lehre werden derzeit fünf verschiedene Dialekte sowie auch Maltesisch angeboten, womit Wien international gesehen nur von der Pariser Universität INALCO übertroffen wird. Neben komparativen Studien zur arabischen Dialektologie sowie im Bereich von Kontaktlinguistik bestehen mehrere regionale Schwerpunkte: Veronika Ritt-Benmimoun leitet derzeit das bereits dritte am Institut angesiedelte große Forschungsprojekt zu den Dialekten Tunesiens. Stephan Procházka widmet sich insbesondere der Erforschung von arabischen Minderheitendialekten der Südtürkei sowie – in Kooperation mit dem Linguisten Utz Maas (Univ. Graz) – den Dialekten Marokkos. Mit Ana Iriarte Díez forscht an der Wiener Arabistik auch eine ausgewiesene Expertin im Bereich der Syntax mit besonderem Fokus auf den Dialekten des Libanons und Syriens. Die in der iranischen Provinz Khuzestan gesprochenen arabischen Dialekte werden derzeit von Bettina Leitner untersucht, die in einem kürzlich vom FWF genehmigten Forschungsprojekt gemeinsam mit der Sprachwissenschaftlerin Dina El Zarka (Univ. Graz) auch zu den Dialekten der östlichen Golfküste arbeitet.

Ein kollektiv und in Kooperation mit dem Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage (ACDH-CH) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Direktor Dr. Karlheinz Mörth) betriebenes Langzeitprojekt ist VICAV. Das Vienna Corpus of Arabic Varieties ist ein innovatives Unternehmen, das als Plattform für verschiedene Forschungsbereiche der arabischen Dialektologie angesehen werden kann. Die Kooperation mit dem ACDH-CH garantiert dabei die Einhaltung der hohen Standards im Bereich Digital Humanities. VICAV ist der Politik des open access verpflichtet und richtet sich sowohl an Forschende als auch an Studierende. Neben verschiedenen Textkorpora umfasst es derzeit drei elektronische Wörterbücher sowie die wahrscheinlich umfangreichste digitale Bibliographie zur arabischen Dialektologie (4.500 Titel).

Umfangreiche und im praktischen Unterricht getestete Lehrbücher für Syrisch-Arabisch wurden bereits von Mitarbeiter*innen des Instituts publiziert. Derzeit sind Lehrbücher zum Irakisch-Arabischen sowie zu den Dialekten von Tunis und Kairo in Vorbereitung.

Die arabische Dialektologie an der Wiener Arabistik ist stark in die internationale Forschungslandschaft eingebunden. Neben der intensiven Kooperation im Rahmen von Projekten sind alle Wissenschaftler*innen in der Association Internationale de Dialectologie Arabe (Paris) aktiv. Veronika Ritt-Benmimoun ist eines von fünf Mitgliedern des Executive Boards dieser fachlich wichtigen Vereinigung; Stephan Procházka war von 2004-2015 ihr Präsident.

Arabische Populärkultur

Traditioneller Geschichtenerzähler in einem Damaszener Kaffeehaus @ Stephan Procházka

Eng verknüpft mit dem Schwerpunkt „Arabische Dialektologie“ sind Forschungen zur arabischen Populärkultur. Alltags- und Populärkultur werden praktisch ausschließlich in den regionalen Dialekten artikuliert. Diese umfassen einerseits traditionelle Formen wie Lieder oder die mündlich tradierter Poesie. Diesen Formen der Alltagskultur in den beduinischen Gesellschaften Südtunesiens widmet sich ein Teil der Forschung von Veronika Ritt-Benmimoun, die sowohl die traditionelle Frauenpoesie als auch die der Männer in ihrem sozialen Kontext erforscht.

Andererseits sind die Dialekte auch Träger einer reichhaltigen Popkultur, die sich insbesondere in der Musik manifestiert. Gisela Kitzler forscht in diesem Zusammenhang zur šaˁbi- und mahraganāt-Musik, zwei Genres der ägyptischen Populärmusik. Arabische Populärkultur wird unter anderem aufgrund der Sprachvarietät, in welcher sie artikuliert wird, oft kontrovers diskutiert und mit Konzepten von Identität verbunden. Deshalb gehören auch language attitudes zu diesem Schwerpunkt.

Einen eigenen Bereich der Populärkultur stellen die Phänomene der Volksreligion dar, welche Stephan Procházka vor allem mit Bezug auf Tunesien sowie (in Zusammenarbeit mit Gisela Procházka-Eisl) für die alawitischen Gemeinschaften in der Südtürkei untersucht hat.

Geschichte der arabischen Philosophie, Kalām und Medizin

Innerhalb des Schwerpunkts Geistes- und Textgeschichte stehen drei Aspekte im Vordergrund: die arabische Rezeption griechischer Wissenschaft (Graeco-Arabistik); die Entwicklung der Philosophie, rationalen Theologie (Kalām) und Medizin in arabischer Sprache vor allem in der Periode vom 9. bis zum 15. Jh. Dazu kommt noch die handschriftliche Überlieferung der entsprechenden Texte. Im graeco-arabistischen Bereich werden vor allem die Übersetzungsliteratur aus der Mitte des 8. bis zum Anfang des 11. Jh. und die Herausbildung von arabischer Fachterminologie untersucht. Im Mittelpunkt der inhaltlichen Auseinandersetzung mit klassisch-arabischen Texten stehen philosophische, theologische und medizinische Anschauungen sowie deren gegenseitige Beeinflussung. Besonderes Augenmerk gilt auch christlich-arabischen Gelehrten wie dem Galen-Übersetzer und Arzt Ḥunayn ibn Isḥāq oder dem Aristoteles- und Galenkommentator sowie Theologen Ibn al-Ṭayyib. Um auf bisher nicht ediertes Textmaterial zugreifen und es in der Forschung berücksichtigen zu können, wird zudem der Handschriftenkunde (Paläographie und Kodikologie) und Editionstätigkeit hoher Stellenwert zugemessen. Dabei werden Handschriften auch als materielle Objekte betrachtet, die oft jahrhundertelange gelesen, kommentiert und weitergegeben wurden.

Die aktuelle Forschung von Elvira Wakelnig konzentriert sich auf die Anfänge der arabischen Philosophie, deren Verankerung in der spätantiken Tradition und vor allem die bisher vernachlässigte Bedeutung der Einleitungsliteratur in Form von Prolegomena. Als arabische Beispiele dieser Prolegomena-Literatur sind die Edition, Übersetzung und Studie von Ibn Bahrīzs Definitionen der Logik sowie einer anonymen und titellosen Textsammlung aus einer Teheraner Handschrift in Vorbereitung. Darüber hinaus wird die Mehrdeutigkeit verschiedener arabischer Fachtermini untersucht, wie z.B. des Konzepts der Natur in den arabischen Galen-Übersetzungen und der auf diesen basierenden arabischen Abhandlungen. 

Im Rahmen des französisch-österreichischen Forschungsprojektes GAIA (Galen in Arabic – More than a Translation) entstehen am Institut derzeit die Edition der alexandrinischen Ǧawāmiˁ der Galen-Schrift Ḥīlat al-burˀ von Ghadeh Bekir sowie die Edition und deutsche Übersetzung der Masāˀil fī l-ṭibb (in Form von Baumdiagrammen) des Ḥunayn ibn Isḥāq von Ruth Hammerschmied.

Syrisch-Aramäisches Manuskript im Kloster Mor Gabriel, Ostanatolien @ Stephan Procházka

Kulturraum Südarabien

Dieser seit etwa einem Jahrzehnt bestehende Schwerpunkt wird hauptsächlich von George Hatke betreut. Im Fokus stehen der vorislamische Jemen, das antike und mittelalterliche Äthiopien sowie die kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Seiten des Roten Meeres. Seine Forschung umfasst daher die Geschichte des Roten Meeres im Altertum, vergleichende semitische Philologie, Fernhandel und religiöse Ideologie in der semitischsprachigen Welt im Altertum.

Altstadt von Jiblah mit der Moschee der Herrscherin Arwa bint Ahmad, Jemen @ Stephan Procházka