Ausrichtung der Wiener Altorientalistik

Die Altorientalistik (Assyriologie) und die Orientalische Archäologie beschäftigen sich mit den Sprachen, der Kultur und der materiellen Hinterlassenschaft der Zivilisationen des Antiken Mesopotamien aus den historischen Zeiten seit der Schrifterfindung am Ende des 4. Jahrtausends v.Chr. bis zum Ende der keilschriftlichen Überlieferung um das Jahr 0. Der geographische Raum umfasst weite Teile Vorderasiens auf dem Gebiet der modernen Staaten Irak, Syrien, Türkei, Iran und deren benachbarter Länder.

Altorientalistik

Wesentliche Quelle der Altorientalistik sind die in verschiedenen Sprachen in Keilschrift abgefassten Texte zu nennen, die zumeist auf Tontafeln, aber auch auf Stein erhalten geblieben sind. Die wichtigsten Sprachen sind das Sumerische, Akkadische (Babylonisch-Assyrische) in Mesopotamien und das Hethitische in Kleinasien. Hinzu kommen weitere Keilschriftsprachen, wie Hurritisch, Urartäisch, Elamisch, Ugaritisch und Altpersisch. Auch die in Syrien beheimateten Sprachen wie Amurritisch, Phönizisch und Altaramäisch gehören dazu.

Insgesamt hat man bislang etwa 550.000 Texte gefunden. Diese Keilschrifttexte stellen das älteste und zweitgrößte Textkorpus in der Antike dar, zahlenmäßig nur übertroffen von griechischen Texten. Aber das Korpus wächst weiterhin, denn mit neuen Ausgrabungen sind auch neue Textfunde verbunden. Viele der Texte sind nachwievor noch unpubliziert.

Die Texte gehören in die Bereiche Wirtschaft, Recht, Verwaltung, Sozial- und Herrschaftsstrukturen, Literatur, Religion: Abrechnungen findet man ebenso wie Gesetzestexte, Königsinschriften, Epen, Gebete und Kultanweisungen u.v.m. Die Altorientalistik beschäftigt sich also mit einem weiten Bogen von Fragestellungen von der ältesten Literatur der Menschheit über Religions- und Wirtschaftsgeschichte bis zur Wissenschaftsgeschichte, etwa im Bereich der Astronomie, die ihre Wurzeln im alten Mesopotamien hat. Die Quellen werden zum einen sprachlich ausgewertet: Grammatik und Wortschatz dieser alten Sprachen stellen uns immer wieder vor neue Herausforderungen. Sie verraten viel über Sprachgeschichte, aber auch über die Schreiber, über kulturelle Kontakte und Wanderungen von Menschen im Alten Vorderasien. Zum anderen werden die Texte kulturhistorisch interpretiert. Insgesamt ergibt sich ein vielschichtiges Bild einer faszinierenden antiken Kultur, das sich durch dynamische Forschungstätigkeit kontinuierlich verändert und erweitert.

Ausschnitt aus einer Tontafel mit einer Hymne an Marduk, 1. Jahrtausend v. Chr., Metropolitan Museum New York, Inv.Nr. 86.11.313 @ public domain: www.metmuseum.org/art/collection/search/321937

Archäologie

Bei der Rekonstruktion des Alten Orients wird die Altorientalistik dabei von der Orientalische Archäologie unterstützt. Diese beschäftigt sich mit den materiellen Hinterlassenschaften ab dem Beginn der Sesshaftwerdung des Menschen im 10. Jahrtausend v. Chr. In Wien ist der Schwerpunkt allerdings auf die historischen Zeiten gerichtet. Artefakte und ihre Fundplätze bieten ein breites Feld, um sowohl das tägliche Leben der einfachen Menschen wie auch der herrschenden Schichten zu rekonstruieren. Neben der Stilgeschichte, die als Basis dient, um Objekte den richtigen Epochen zuweisen zu können, liegt der Schwerpunkt auf der Deutung und Einordnung der Objekte in ihr kulturelles Umfeld. Daneben spielt die Architektur eine große Rolle. Die Vielfalt der Artefakte von einfachem Keramikgegenständen bis zu Luxusgegenständen aus Edelmetall, die auf höchstem handwerklich und künstlerischem Niveau hergestellt wurden, bietet ein weites Feld für Untersuchungen aller Art. Diese geht immer zusammen mit den von der Altorientalistik bearbeiteten Textquellen einher. Die engen Zusammenarbeit charakterisiert das Fach an unserer Universität.

Rollsiegel aus Tell Tweini, Syrien, mittelassyrisch (13. Jahrhundert v. Chr.), Ausgrabungsnr. TWE-A-07-05851-M-001 @ Universität Ghent, Foto H. Hameeuw

In Wien liegen die Forschungsschwerpunkte der philologisch-historischen Arbeit, der stark forschungsgeleiteten Lehre und der Drittmittelprojekte im Bereich der mesopotamischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, der babylonischen Literatur und der babylonischen Wissenschaft. Als notwendiges Komplement hierzu beschäftigt sich die Orientalische Archäologie mit der Erschließung mesopotamischer Funde, die Licht auf diese Fragestellungen werfen können.

In den Kernbereichen ihrer Aktivitäten befindet sich die Wiener Altorientalistik unter den international führenden wissenschaftlichen Institutionen. Die hohe fachliche Qualität zeigt sich z.B. in der Verankerung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, wo zwei Altorientalisten, H. Hunger (pensioniert) und M. Jursa, wirkliche Mitglieder sind, vor allem aber in der Anzahl von Forschungsprojekten, welche in den vergangenen Jahren kompetitiv aus Drittmitteln eingeworben wurden.

Der engere Fokus der meisten Wiener Arbeiten zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ist Babylonien im ersten Jahrtausend v. Chr. Hier leitete und leitet M. Jursa eine Reihe von Projekten, dzt. eines zur materiellen Kultur Babyloniens, aus denen auch eine Reihe von Abschlussarbeiten und Dissertationen hervorgegangen sind. Desweiteren fällt das Marie-Curie-Projekt von Sh. Zaia zur Urbanismus und Politik in Assyrien und Babylonien in diesen Bereich.

Im Bereich des babylonischen Gelehrtenwesens und der Literatur ist insbesondere das ERC-Projekt REPAC von N. De Zorzi zu nennen. Dieses fünfjährige Großprojekt widmet sich den Strukturelementen gelehrter Texte aus Babylonien, die Rückschlüsse auf antike Argumentationsmuster und Weltbilder erlauben. Hierher gehören auch das Projekt von M. Jursa zur babylonischen Literatur der Spätzeit (in Kooperation mit Nathan Wasserman von der Hebrew University Jerusalem) und das Forschungsprojekt von De Zorzi zur babylonischen Vorzeichenkunde, die sich auf das Verhalten von Tieren bezog. Das Projekt von R. Pirngruber zu den Babylonischen Astronomischen Tagebüchern schließlich erschließt - in Anschluss an die Editionstätigkeit von H. Hunger, ebenfalls in Wien - ein einzigartiges Textkorpus aus dem Babylonien des 1. Jahrtausends v Chr. für die Wissenschaftsgeschichte.

Sphinx vom Tempel aus Tell Ain Dara, Nordsyrien, Ende 2. Jahrtausend v. Chr. @ Stephan Procházka