Fachgeschichte

Trotz zahlreicher Vorlesungen über die osmanisch-türkische Sprache, die sich vereinzelt bis in das letzte Drittel des 17. Jahrhunderts, aber deutlicher in die 1840er Jahre zurückverfolgen lassen, konnte sich das Fach Turkologie an der Universität Wien erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Teil des 1886 gegründeten Orientalischen Instituts (heute Institut für Orientalistik) etablieren. Ein Grund hierfür war sicherlich die Existenz der von Maria Theresia 1754 eingerichteten „K.K. Akademie der orientalischen Sprachen“, die im 19. Jahrhundert in „Konsularakademie“ umbenannt wurde und nach Schließung durch die Nationalsozialisten seit 1964 als „Diplomatische Akademie“ weiter existiert.

Auch wenn von Beginn an in der 1887 am Orientalischen Institut gegründeten Wiener Zeitschrift der Kunde des Morgenlandes (WZKM) turkologische Beiträge erschienen, sollte es noch bis in die 1920er Jahre dauern, bis sich osmanisch-türkische Studien durch die Einrichtung eines Lehrstuhls im universitären Kontext dauerhaft etablieren konnten. Friedrich v. Kraelitz-Greifenhorst (1876-1932) lehrte seit 1915/16 am Orientalischen Institut, das bereits 1896 gegründet worden war, und wurde 1923/24 zum ersten Ordinarius für Turkologie, eine Funktion, die er bis 1932 ausübte. Dass v. Kraelitz-Greifenhorst in der Zwischenkriegszeit Teil eines gut organisierten antisemitischen Netzwerkes an der Universität Wien war, die, um hier Klaus Taschwer zu zitieren „jüdische Forscherinnen und Forscher vertrieb“, soll nicht unerwähnt bleiben.[1]

Eminönü Hafen, Istanbul @ Yavuz Köse

Zu den von v. Kraelitz-Greifenhorst bearbeiteten Arbeitsgebieten gehört die philologische Turkologie, besonderes Augenmerk richtete er aber auf die Edition und Nutzbarmachung osmanischer Urkunden. Er darf als Begründer der osmanisch-türkischen Diplomatik gelten. Grundlegend ist hier seine monographische Studie „Osmanische Urkunden in türkischer Sprache aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur osmanischen Diplomatik“ aus dem Jahr 1921. Nicht unerwähnt darf bleiben, dass Paul Wittek, der mit seiner Ghazi-These eine der einflussreichsten Thesen zur Entstehung des Osmanischen Reiches formulierte, in jener Zeit (bis 1924) zur Etablierung der Osmanistik in Wien mit beitrug.

Der I. WK brachte zahlreiche Forscher in Kontakt mit dem Verbündeten Türkei, darunter auch Herbert Wilhelm Duda (1900-1975), der 1943 Ordinarius für Turkologie und Islamwissenschaft in Wien wurde. Duda, der 1933 das „Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler“ unterzeichnet hatte,[2] setzte sich gegen Herbert Jansky durch, der zwischen 1932 und 1943, ab 1940 als außerplanmäßiger Professor, die Turkologie ohne Lehrstuhl geführt hatte, obwohl Jansky seitens des Nationalsozialistischen Dozentenbundes als politisch einwandfrei und aktiver eingeschätzt wurde.[3]

Duda und andere Orientalisten, die zuvor noch der Meinung waren, das Osmanische Reich an der Seite des Deutschen Reiches retten zu können, begrüßten in den 1920 und 1930er Jahren dessen Zerfall. Duda, dessen Schwerpunkt die Osmanistik und persische Literatur war, veröffentlichte ebenfalls gegenwartsorientierte Arbeiten zur Türkei. 1948 widmete er sich in seiner monographischen Studie „Vom Kalifat zur Republik; die Türkei im 19. und 20. Jahrhundert“ ebenfalls der „neuen Türkei“.

Teeglas @ Yavuz Köse

Eben in jene Türkei wanderte 1937 auch der auf Duda folgende Lehrstuhlinhaber Andreas Tietze aus, wenngleich unter ganz anderen Vorzeichen als Duda. Tietze, der wie seine Eltern – die Kunsthistoriker Hans Tietze und Erika Tietze-Conrat – ein politischer Gegner der sich anbahnenden Faschisierung der Gesellschaft war und der sozialdemokratischen sowie sozialistischen Bewegung nahe stand und nicht zuletzt aufgrund seiner jüdischen Abstammung – wanderte in die Türkei aus, um der drohenden rassistischen Verfolgung zu entgehen. Zweifelsohne ist Andreas Tietze, der 1973 den Lehrstuhl für Turkologie übernahm und bis 1984 als Ordinarius für Turkologie und Islamwissenschaft an der Universität Wien lehrte, der berühmteste Gelehrte der hiesigen Turkologie, der sowohl in der Türkei als auch in Europa und in den USA höchste Anerkennung und Wertschätzung genoss und genießt.

Seine Forschungsinteressen und Arbeiten waren weitgefächert und reichten u.a. von sprachgeschichtlichen Aspekten des Türkischen sowie des Osmanischen, osmanisch-türkischer und armeno-türkischer Literatur bis hin zum nautischen Wortschatz und osmanisch-türkischer Historiographie. Der Turkologische Anzeiger (TA) – eine systematische Bibliographie für die Turkologie und Osmanistik – wurde von Tietze gemeinsam mit György Hazai gegründet. Den Kern seiner Forschungen in Wien bildete das Großprojekt des lexikalisch etymologischen Wörterbuchs des Türkischen (Tarihi ve etimolojik Türkiye Türkçesi lugatı), dessen ersten Band er noch zu Lebzeiten (2002) herausbringen konnte.

Anton Cornelius Schaendlinger, der 1984 als Ordinarius auf Andreas Tietze folgte und den Lehrstuhl bis 1991 besetzte, befasste sich neben der osmanischen Numismatik auch mit der osmanischen Historiographie und verfolgte damit ein Themenfeld, das Andreas Tietze selbst intensiv bearbeitet hatte. Besonderes Augenmerk legte Schaendlinger aber auf die osmanische Diplomatik und Paläographie, die er mit Editionen osmanisch-türkischer Dokumente aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv ergänzte. Damit griff er den von Kraelitz-Greifenhorst etablierten Schwerpunkt wieder auf und baute diesen weiter aus. Die intensive philologische Auseinandersetzung (im Sinne Tietzes) mit osmanischen Urkunden wird bis auf den heutigen Tag fortgesetzt, insbesondere durch Claudia Römer. Letztere hat gemeinsam mit Gisela Procházka-Eisl 2007 einen Band mit „Osmanische[n] Beamtenschreiben und Privatbriefe[n] der Zeit Süleymāns des Prächtigen aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu Wien“ publiziert. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Wiener Turkologie in Bezug auf die osmanische Diplomatik (also Urkundenlehre) international führend ist und eine hohe Reputation genießt.

Die Auseinandersetzung mit im weitesten Sinne politischen Terminologien, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei Kraelitz-Greifenhorst („Parlamentarischen und verfassungsrechtlichen Ausdrücken im Osmanisch-Türkischen“) zu sehen war, blieb auch bis in die Gegenwart ein Fokus, wie die von Heidemarie Doğanalp-Votzi und Claudia Römer 2009 vorgelegte Studie zu „Herrschaft und Staat: Politische Terminologie des Osmanischen Reiches der Tanzimatzeit“ eindrücklich belegt.

Markus Köhbach, der von 1992 bis 2017 den Lehrstuhl für Turkologie innehatte, setzte die von Kraelitz-Greifenhorst, Duda, Jansky, Schaedlinger und natürlich Andreas Tietze geprägte turkologische Tradition fort. Zu seinen Schwerpunkten gehörten insbesondere die osmanische Historiographie, die habsburgisch-osmanischen Beziehungen, osmanische Geistesgeschichte, sowie osmanische Philologie und Literatur. Edith Ambros und Gisela Procházka-Eisl stehen mit ihrem Fokus auf die osmanische und türkische Literatur ebenfalls ganz in der Tradition von Andreas Tietze. Tietze befasste sich nicht nur mit osmanischer Literatur, sondern war ein passionierter Leser und hervorragender Kenner zeitgenössischer türkischer Literatur, die er in Form von Readern publiziert hatte. Ergänzt wird die gegenwärtige literaturwissenschaftliche Forschung immer wieder durch kulturwissenschaftliche bzw. kulturgeschichtliche Arbeiten zum Osmanischen Reich und der Türkei.

Seit Januar 2019 erfolgte mit der Neubesetzung des Lehrstuhls für Turkologie mit Yavuz Köse eine Erweiterung der bisherigen Schwerpunkte. Neben der Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte des Osmanischen Reiches wird ein weiterer Schwerpunkt auf der Zeitgeschichte und gegenwartorientierten Türkeiforschung liegen.


Für den historischen Abriss wurden folgende Werke genutzt:
Ernst Dieter Petritsch, "Die Wiener Turkologie vom 16. bis zum 19. Jahrhundert", in: Klaus Kreiser (Hrsg.), Germano-Turcica. Zur Geschichte des Türkisch-Lernens in den deutschsprachigen Ländern. (Schriften der Universitätsbibliothek Bamberg 4). Universitätsbibliothek, Bamberg 1987, S. 25-40; Colin Heywood, "Wittek and the Austrian tradition", Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland (1988), S. 7-25; Sibylle Wentker, Das Studium der Orientalistik an der Universität Wien. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophischen Fakultät, Bericht. Wien 2003; Helga Anetshofer, "'Long Live Ottoman Studies'. Erinnerungen an Andreas Tietze (1914-2003)", TUBA 30/1 (2005), S. 315-350; Andreas Ekkehard Ellinger, Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945. Berlin 2006; Heinrich Pfusterschmid-Hardtenstein, Kleine Geschichte der Diplomatischen Akademie Wien. Ausbildung im Bereich der internationalen Beziehungen seit 1754. Diplomatische Akademie Wien 2008; Wolfdieter Bihl, Orientalistik an der Universität Wien. Forschungen zwischen Maghreb und Ost- und Südasien. Die Professoren und Dozenten. Wien u.a. 2009; Claudia Römer, "Der ganze Orient: Zur Geschichte der orientalistischen Fächer am Beispiel einer internatio­nalen orientalistischen Zeitschrift: Die Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes (WZKM) - VII. Die Turkologie in der WZKM", in: Orientalische Landschaften. WZKM 100 (2010), S. 29-35; Balbous, Cécile, Das Sprachknaben-Institut der Habsburgermonarchie in Konstantinopel. Berlin 2015; Klaus Taschwer, "Geheimsache Bärenhöhle. Wie eine antisemitische Professorenclique nach 1918 an der Universität Wien jüdische Forscherinnen und Forscher vertrieb", in Regina Fitz, Grzegorz Rossolinski-Liebe, Jana Starek (Hrsg.), Alma Mater Antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1938. Wien 2016, S. 221-242; Gisela Procházka-Eisl, "Viyana'da Türkçe Öğgretiminin Tarihi, Dünü-Bugünü-Yarını", Tuna 3 (2019), S. 5-7 (orig "Viyana'da Türkçe öğretiminin tarihi, dünü-bugünü-yarını", Orhon Yazıtlarının Bulunuşundan 120 Yıl Sonra Türklük Bilimi ve 21. Yüzyıl. Ankara, 2011. S. 681-689); Maas, Utz, "Tietze, Andreas", (Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher) https://zflprojekte.de/sprachforscher-im-exil/index.php/katalog-m-z/t/463-tietze-andreas#_ftnref20 (zuletzt, 22.10.2019).

[1] Taschwer, "Geheimsache Bärenhöhle", S. 230.

[2] Ellinger, Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus, S. 340 (im Artikel Dudas, S. 279).

[3] Ellinger, Deutsche Orientalistik, S. 179-180.