Ausrichtung der Wiener Turkologie
Die Wiener Turkologie steht für eine philologisch orientierte Osmanistik und wird hierfür weit über die Grenzen Österreichs geschätzt. Nicht weniger renommiert ist ihr zweiter Schwerpunkt, die osmanisch-türkische Literatur und Kultur. Außerdem wird die Wiener Turkologie mit einem gegenwartsbezogenen Profil das thematische Spektrum erweitern und Schwerpunkte im Bereich der Technik-/Umwelt-, und Tourismusgeschichte sowie Cultural Heritage und Wissenschaftsgeschichte (Geschichte der Turkologie/Osmanistik) aufbauen. Ein weiterer Schwerpunkt wird den gezielten Einsatz von Digital Humanities-Verfahren im Bereich der Osmanistik bilden.
Gleichzeitig soll damit die Vernetzung und der Austausch mit weiteren universitären Einrichtungen, aber auch etwa den Instituten und Forschungseinrichtungen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gefördert werden. Damit ist angestrebt, in den kommenden Jahren die Wiener Turkologie als einen wichtigen und zentralen Wissenschaftsstandort zu etablieren und so noch enger an die internationale Turkologie anzubinden.
Forschungsschwerpunkte
Umwelt- und Technikgeschichte des Osmanischen Reiches und der Türkei
Die Umweltgeschichte fand im Bereich der Osmanistik und Türkeiforschung über mehrere Jahre (Jahrzehnte) hinweg kaum Beachtung. Osmanisten und Türkei-Historiker befassen sich zwar mit der Wirtschafts-, Fiskal-, Landwirtschafts- und Sozialgeschichte sowie anderen Bereichen, jedoch selten mit der “Umweltgeschichte”. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Osmanischen Reiches und der Türkei aus umweltgeschichtlicher Perspektive ist entsprechend ein neues Phänomen. Ziel ist es, den Schwerpunkt „Umweltgeschichte“ innerhalb der Wiener Osmanistik und Türkeiforschung mittel- und langfristig zu etablieren. Wien bietet hierfür mit dem Zentrum für Umweltgeschichte (ZUG) einen idealen Kooperationspartner. Das Network for the Study of Environmental History of Turkey (NEHT), das am Lehrstuhl für Turkologie angesiedelt ist, bildet eine weitere wichtige Anbindung. NEHT kooperiert mit der European Society for Environmental History (ESEH).
Tourismusgeschichte des Osmanischen Reiches und der Türkei
In Wien soll eine umfassende Kulturgeschichte des Tourismus im Osmanischen Reich und der Türkei angestrebt werden. Dabei sollen erstmals sowohl westliche wie osmanisch-türkische – schriftliche wie visuelle – Quellen vergleichend untersucht und hierfür computergestützte Verfahren eingesetzt werden, um lokale wie fremde touristische Praxis und Repräsentanz begrifflich und semantisch genauer zu erfassen, aber auch um Veränderungen und Kontinuitäten über längere Zeiträume hinweg (18. - 20. Jahrhundert) zu bestimmen und somit die bisher kaum untersuchten Zusammenhänge zwischen der Genese touristischer Räume und touristischer Praxis und ihrer Artikulation zu untersuchen. Das globale Phänomen Tourismus erweist sich als ein geeignetes Thema, sich mit der verwobenen und zuweilen verwickelten europäisch-türkischen Geschichte und damit mit Fragen von Identität und Kultur auseinanderzusetzen. Nicht zuletzt bietet die Tourismusgeschichte ideale Anknüpfungspunkte zur Umweltgeschichte, aber vor allem zu dem wichtigen Feld der Cultural Heritage-Studien.
Digital Humanities und Osmanistik
Einen weiteren Schwerpunkt der Wiener Turkologie sollen die sogenannten „Mixed Methods“, der Einsatz von computergestützten Verfahren und Methoden der Digital Humanities (DH) innerhalb der Osmanstik bilden. In den letzten Jahren ist eine größere Zahl von Forschungsvorhaben und Projekten in den Geisteswissenschaften entstanden, die Methoden der Informatik und Computertechniken für ihre Ziele nutzen. Berücksichtigt man allerdings das immense geographische Gebiet des Osmanischen Reiches, das in über sechs Jahrhunderten eine Vielzahl ethnisch-religiöser Gruppierungen mit vielfältigen Sprachen, Schriften und kulturellen Identitäten umfasste, ergeben sich spezifische Problemlagen und Herausforderungen an DH-Methoden, die eine interdisziplinäre Herangehensweise erfordern. Dabei wird es darum gehen, die Potentiale und Herausforderungen einer „Digitalen Osmanistik“ herauszuarbeiten und mittels Forschungsprojekten zu erkunden wie die jüngsten Entwicklungen im Bereich der Computerwissenschaften und Digital Humanties-Verfahren auf die osmanistischen Daten angewendet und verwendet werden können. Möglichkeiten der Integration von DH-relevanten Lehrinhalten in osmanistischen Studiengängen sollen diskutiert werden. Für ein frühes DH-Projekt vgl. https://mecmua.acdh.oeaw.ac.at.
Gegenwartsorientierte Türkeiforschung
Die Wiener Turkologie wird sich in Forschung und Lehre intensiv mit der zeitgeschichtlichen und gegenwartsorientierten Türkeiforschung befassen. Hierzu werden neben regelmäßigen Vortragsreihen zu Politik, Geschichte und Kultur der Türkei, Workshops und Konferenzen organisiert. Über das Andreas Tietze Memorial Fellowship Programm werden Nachwuchswissenschaftler*innen nach Wien eingeladen, die sich u.a. auch mit zeitgeschichtlich relevanten Forschungsfragen befassen. Zudem wird mittelfristig die Einrichtung einer interdisziplinären Forschungsplattform zu kritischen Türkeistudien unter Einbezug von Wissenschaftler*innen von der Fakultät für Sozialwissenschaften, der Historisch-Kulturwissenschaftlichen sowie der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultäten (u.a. aus den Bereichen der Politikwissenschaften, Islamisch Theologischen Studien (Alevitentum), Sozial- und Kulturanthropologie, Geschichte, Germanistik sowie Turkologie) angestrebt.
Andreas Tietze Memorial Fellowship Programm
Andreas Tietze (1914-2003), der 1973 den Lehrstuhl für Turkologie übernahm und bis 1984 als Ordinarius für Turkologie und Islamwissenschaft an der Universität Wien lehrte, ist zweifellos der berühmteste Gelehrte der hiesigen Turkologie, der sowohl in der Türkei als auch in Europa und in den USA höchste Anerkennung und Wertschätzung genoss und genießt.
Das seit März 2019 existierende Andreas Tietze Memorial Fellowship Programm dient dazu, seine Person und Arbeit bei der jüngeren Generation von Forscher*innen gegenwärtig zu halten und hervorragenden Nachwuchswissenschaftler*innen die Möglichkeit zu eröffnen, in Wien zu forschen und vom Austausch mit zahlreichen Kolleg*innen mit osmanistischen und türkeibezogenen Interessen sowie den reichen Beständen relevanter Archive und Bibliotheken zu profitieren.
Mit diesem Fellowship möchte die Wiener Turkologie auch gegen die dramatisch zunehmenden Repressionen gegen türkische AkademikerInnen ein Zeichen setzen und ein klares Statement für die Wahrung der Freiheit der Forschung abgeben und gerade auch bedrohten WissenschaftlerInnen (Scholars at Risk) aus der Türkei die Gelegenheit bieten, ihre Forschungen frei von Repression und Verfolgung durchzuführen. Mit der Etablierung eines dauerhaften Andreas Tietze Memorial Fellowship-Programms will die Wiener Turkologie nicht nur seine Arbeit würdigen, sondern in seiner Tradition die Wiener Turkologie als einen der internationalen Standorte der turkologischen Forschung sichtbarer machen.